Mittwoch, 16. März 2011

Märchen aus China

Der gelbe Storch
Der Student Liu war arm und hatte nicht einmal so viel Geld, um sich eine Tasse Tee zu kaufen. Liu war ein anständiger und fleißiger junger Mann, aber seine Eltern waren schon gestorben und konnten ihm kein Erbe hinterlassen, da sie durch eine große Überschwemmung an den Bettelstab gebracht worden waren. Ärmlich bekleidet wanderte Liu durch das Land und wusste schließlich nicht mehr, wie er den nächsten Tag überstehen sollte.
Die Wasserbüffel fanden ihr Gras selbst auf den schmalen Dämmen zwischen den Reisfeldern, die Vögel schnappten Mücken und Libellen in der Luft und sangen froh aus vollem Halse, selbst der Schlammfisch im Reisfeld fand Käfer und Würmer, nur Liu fand nichts, womit er seinen Hunger hätte stillen können.
Abends kam er in ein kleines Städtchen und blieb vor einem Teehaus stehen. Der Wirt sah den jungen Mann, hatte Mitleid mit ihm, holte ihn herein, schenkte ihm Tee ein, gab ihm reichlich zu essen und bot ihm ein bequemes Nachtlager an. Der Student sagte ihm, dass er nicht das kleinste Geldstück in der Tasche habe; der Wirt aber wehrte gutmütig ab und sagte ihm, er solle sich recht wohl unter seinem Dache fühlen.
So kam der Student Liu mit dem Wirt und mit den Gästen ins Gespräch und verblüffte alle durch seine Klugheit, nahm alle ein für sich durch seine Bescheidenheit und machte alle nachdenklich durch seine Erzählung über das traurige Los seiner Eltern. Liu schlief in dieser Nacht tief und fest wie ein Stein und erwachte gestärkt und erfrischt schon früh am Morgen. Als der Wirt aufgestanden war, deckte er den Tisch und brachte ein reichhaltiges Frühstück herein, das selbst einen starken Mann bis zum späten Abend sattmachen konnte.
Der Student langte tüchtig zu, stand dann auf, verbeugte sich vor dem Wirt und sagte ihm: "Sie haben mir eine große Wohltat erwiesen, ich danke ihnen von Herzen." Mit diesen Worten nahm er ein Stück gelber Kreide aus seiner Tasche, trat einen Schritt vor und malte mit wenigen Strichen einen Storch an die Wand der Teestube. Da stand er wie lebendig zwischen den Gräsern eines seichten Tümpels, mit hohen Beinen, schönem Gefieder, stolzem Kopf und langem Schnabel, ein Storch auf der Jagd nach Fröschen!
Der Wirt schaute entzückt auf das Bild und wollte sich schon bei dem Studenten bedanken, als ihm Lui mit folgenden Worten zuvorkam: "Mein verehrter Wohltäter, dies ist mein kleines Abschiedsgeschenk. Wenn Sie tun, was ich sage, dann werden Sie in Ihrem Teehaus immer viele Gäste haben: Wenn die Gäste in Ihrem Teehaus versammelt sind, dann brauchen Sie nur in die Hände zu klatschen. Der Storch kommt dann von der Wand und beginnt für alle im Teehaus zu tanzen.Hat er seinen Tanz beendet, kehrt er zu seiner Wand zurück. Klatschen Sie aber nur für einen Gast in die Hände, so kommt der Storch zwar auch von der Wand, tanzt dann aber zum letzten Mal. Achten Sie daher wohl auf meine Worte, dann wird es Ihnen an Gästen nie mangeln!"
Mit diesen Worten verbeugte sich Liu vor dem Wirt und nahm Abschied. Der erstaunte Wirt stand wie angewurzelt und wusste nicht, worüber er mehr nachsinnen sollte, über den gelben Storch an der Wand oder über die Worte des Studenten. Als er aus dem Fenster sah, konnte er gerade noch sehen, wie Liu in der Morgensonne zwischen den Pferdeschwanzkiefern am Ende der Straße ins weite Feld bei den Reisterrassen einbog.
Der Wirt konnte es kaum erwarten, bis abends die Gäste in der Teestube versammlt waren. Alle staunten sie über den gelben Storch an der Wand. "Der ist ja wie lebendig", sagte Huang, der Pastetenverkäufer. "Man meint, er packe gleich einen Frosch", warf bewundernd der Ölhändler Tang ein. "Ja man könnte meinen, er komme gleich von der Wand!", rief Bai, ein wohlhabender Bauer. Und alle anderen, die still und erstaunt vor ihren Teetassen saßen, nickten zustimmend.
"Das können wir gleich haben", meinte daraufhin der Wirt und klatschte in die Hände. Was war das? Der gelbe Storch an der Wand bewegte sich plötzlich, hob ein Bein, hob einen Flügel, hob einen zweiten, hob den Kopf und stieg herunter von der Wand, stieg herunter auf den Boden der Teestube und begann einen Tanz zu tanzen, so schwungvoll und schön, wie die Mädchen aus der Provinz Hunan tanzen, ganz nach Takt und Melodie, als spielte ein verstecktes Orchester mit Flöten, mit Gong, mit Chang und mit Pipa.
Die Gäste waren bezaubert und wagten sich kaum zu rühren. Der Storch tanzte in der Mitte der Teestube, hob immer wieder elegant seine Flügel, und da war Huang, als verspüre er einen leichten Windhauch an seiner Wange, und es war Tang, als spüre er den Flügel des gelben Storches in seinem Nacken, und Bai meinte sogar, Platz machen zu müssen, und rückte ein wenig zur Seite. Mit großen, weit ausholenden Schritten beendete der Storch seinen Tanz und kehrte schweigend zu seiner Wand zurück.
Da stand er nun wieder in seinem Tümpel zwischen den Binsen, unbeweglich. Die Gäste starrten zur Wand, starrten einander an, starrten den Wirt an, glaubten zu träumen, schüttelten die Köpfe, zwickten einander in die Arme und beteuerten schließlich mit lauten Worten, weder geschlafen noch geträumt zu haben. "Er ist wahrhaftig von der Wand gekommen", sagte der Pastetenverkäufer Huang. "Er hat getanzt, wie bei einem großen Fest die Mädchen tanzen", meinte Tang der Ölhändler. "Und ich musste ihm sogar Platz machen, als er in meine Nähe kam", rief Bai der Bauer.
Die Nachricht von dem gelben Storch, der in der Teestube tanzte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt. Am Abend war die Teestube gerammelt voll. Viele Gäste, die schon monatelang nicht mehr den Weg zum Teehaus gefunden hatten, kamen herein und taten so, als ob sie sich erst am Abend vorher von dem Wirt verabschiedet hätten. Der Wirt machte gute Miene und verriet mit keinem Wort, woher der gelbe Storch kam und warum er gar von der Wand komme und tanze.
Und wie der Storch tanzte! Kaum hatte er für seine Gäste in die Hände geklatscht, da stieg der Storch von der Wand und tanzte bezaubernd wie am ersten Abend, obwohl ihm nur noch wenig Platz in der prallgefüllten Teestube blieb. Die Gäste waren sprachlos.
Die Nachricht verbreitete sich bald auch in den Dörfern der Umgebung, ja selbst in den anderen Städten der Provinz. Wildfremde Wanderer verspürten plötzlich Teedurst und kehrten bei dem Wirt ein, wohlhabende Gäste ließen sich am Abend von weither in Sänften herantragen, andere kamen auf Pferden geritten. Die Teelieranten konnten den Bestellungen des Wirts kaum noch nachkommen, so viel Tee wurde bei ihm getrunken.
Von dem tanzenden Storch erfuhr auch ein hoher Beamter der Provinzhauptstadt und kam neugierig mit großem Gefolge eines Abends in dem Städtchen an. Er begab sich sogleich zu dem Teehaus und sah zu seinem Ärger, dass die Teestube schon dicht mit Gästen besetzt war. Barsch ließ er daraufhin die Teestube von seinen Dienern räumen. Alle Gäste wurden unsanft hinausbefördert. Trotzig nahm der Beamte an einem der Tische platz und befahl dem Wirt, den Storch tanzen zu lassen.
Der Wirt dachte sogleich an die Worte des Studenten und weigerte sich, aber als der Beamte eine hohe Summe Geldes bot, vergaß sich der Wirt, klatschte in die Hände und holte damit den gelben Storch von der Wand. Traurig und müde stieg der Storch auf den Boden herab, tanzte einige Schritte und kehrte alsbald zu seinem Platz an der Wand zurück. Der Beamte hatte seinen Willen gehabt und ließ dem Wirt das gebotene Geld von seinen Dienern auszahlen.
Als sich nach der Abreise des Beamten die Gäste wieder zögernd und zaghaft in der Teestube einfanden und der Wirt schließlich in die Hände klatschte, blieb der Storch unbeweglich an seiner Wand. Nichts half, er konnte klatschen, wie er wollte, der Storch stand still in seinem Tümpel. Als der letzte Gast enttäuscht die Teestube verlassen hatte und der Wirt schon die Tür verschließen wollte, klopfte es leise nochmal an die Tür. Draußen stand Liu, der Student.
Schweigend trat er in die Teestube, zog eine kleine Flöte aus der Tasche, spielte eine traurige Melodie darauf, und siehe, der Storch stieg von der Wand und verschwand schnell mit dem Studenten durch die Tür. Kein Wort ward gewechselt, die Tür fiel zu, und der staunende Wirt konnte nur noch durchs Fenster sehen, wie der Student mit dem gelben Storch schnellen Schrittes durch die Straßen der Stadt eilte, die vom Mondlicht nur fahl erhellt wurden.


Aus: Josef Guter: Das große Buch der Zaubermärchen, erlesene Märchen aus aller Welt, Marix Verlag, Wiesbaden 2005
Bildquelle: http://bit.ly/eZP34b

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